R2-Gastautorin Anne Berga: Kurzgeschichten über die Momente des Lebens
Der Linienbus
Von Anne Berga für R2-Mein Leben
Foto: © Christian Aastrup, gemeinfrei
Alter schützt vor Liebe nicht. Und gehört zum Leben und seinen vielen kleinen Momenten dazu. R2-Gastautorin Anne Berga beschreibt die Momentaufnahmen des Lebens.
Dortmund. Das Leben besteht aus vielen kleinen Momenten. Findet auch Anne Berga, Literatin und R2-Gastautorin. Für den R2-Bildungsbürger schreibt Anne Berga kurze Geschichten, die die Momente des Lebens beschreiben. Die erste Geschichte heißt "Der Linienbus".
Eine 80 Jahre alte Frau mit adrettem Hut
Der Linienbus rauschte herbei. Die Leute an der Haltestelle waren froh, lange schon hatten sie im Regen auf ihr Verkehrsmittel gewartet. Sie stiegen ein, die Scheiben waren beschlagen, dicht gedrängt saßen die Fahrgäste in den Reihen. Kein Platz mehr frei. Eine feuchte Luft füllte den Bus. Dämpfe schienen von den klammen Kleidern der Menschen aufzusteigen.
Eine kleine, sicher um die 80 Jahre alte Frau wurde fast von einem korpulenten Herrn im dicken Woll-Wintermantel am Entwertungsautomaten erdrückt. Ihr Hütchen hatte sich schon ein wenig verschoben, aber dies tat ihrem adretten Äußeren keinen Abbruch. Bei genauem Hinsehen konnte man erkennen, dass ihr Mantel sicherlich schon mehrere Jahrzehnte alt war. Am Kragen und an den Ärmeln waren die Stoffkanten schon abgetragen, ein Knopf war aus Kunststoff, im Gegensatz zu den anderen perlmutternen Originalknöpfen. Ein kleines Loch am Revers war sorgfältig gestopft. Ihr buntes Polyester-Halstuch war ordentlich am Hals zusammen gebunden, fast wie ein Krawattenknoten arrangiert. Ihr Gesicht sah müde und traurig aus. Sie konnte einem leid tun, diese kleine alte Frau, so zusammengepfercht und ärmlich gekleidet. Sie war sicher eine einsame Witwe, die mit ihrer kleinen Rente kaum auszukommen vermag und niemanden mehr hatte. Wie schrecklich es sein musste, alt zu sein.
Plötzlich schellt ein Handy...
Plötzlich schellte ein Handy. Alle Fahrgäste signalisierten, dass sie das Klingeln als Störfaktor empfanden, einige, indem sie sich ärgerlich herumdrehten, um herauszufinden, wer sich so schamlos laut in der Öffentlichkeit, ohne Rücksicht auf andere, anrufen ließ, einige schienen kurz zu überprüfen, ob das Schellen ihnen gelten könne.
In diesem Moment holte die alte Frau das klingelnde Telefon aus ihrer grauen Kunststoffeinkaufstasche, suche eine Weile den Knopf, mit dem man das Gespräch in Empfang nehmen kann, drückte diesen mit ihrem zarten, etwas krummen und zitternden Zeigefinger und hielt das Gerät an ihr Ohr. Mit „Ja?“ nahm sie den Anruf an.
Einige verwunderter Blicke trafen die ihren, dann aber ignorierten die anderen Fahrgäste sie wieder. Ich allerdings konnte den Blick nicht abwenden. Wer diese Frau wohl anrufen würde? Ich sah, wie sich ihre Mimik erhellte. Sie begann leise zu sprechen. Ein Lächeln flog über ihr Gesicht, hunderte von Falten erschienen; um ihre Augen bildeten sich lustige Lachfalten. Ihre Stimme klang zärtlich.
Ihre Kinder, dachte ich. Natürlich, die hatten ihr das Handy gekauft, damit sie immer auffindbar war. „Ja, ich bin gleich da“, hörte ich sie flüstern, „noch ein Viertelstündchen. Natürlich hab’ ich dich lieb. Sehr lieb sogar.“ „Enkelkind“, dachte ich. „Nein, du brauchst mich nicht abzuholen. Lass man, die Treppe ist doch so steil.“ Pause. „Ja, ich freue mich auch auf dich. Und wie! Tschüss, mein Liebster, bis gleich.“ Es folgten noch ein paar kleine Küsschen. Dann stellte sie das Telefon wieder ab, indem sie den entsprechenden Knopf wieder mit ihrem zarten, etwas krummen und zittrigen Zeigefinger drückte.
Während sie das Handy wieder in ihrer Einkaufstasche verschwinden ließ, schaute sie sich unsicher um und errötete heftig. Dann aber huschte ein verschmitztes Lächeln über ihr Gesicht.
R2-Gastautorin Anne
Berga.
Anne Berga: Dicke Bücher und das Meer
R2-Gastautorin Anne Berga ist fasziniert von den kleinen und manchmal so entscheidenden Momenten des Lebens. Und schreibt darüber kurze Geschichten für den R2-Bildungsbürger. Im weiteren Leben ist Anne Berga Lehrerin aus Dortmund, die dicke, fesselnde Bücher, große, bunte Kunst, das Meer und natürlich das Ruhrgebiet über alles liebt.
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