Herbert Loos – einer der letzten traditionellen Schleifer Solingens
Im Takt des Wasserrads
Von Lilian Muscutt für R2-Horizont
Foto: Muscutt
Herbert Loos an seinem Arbeitsplatz in der 400 Jahre alten Schleiferwerkstatt in Solingen.
Solingen. Im Morgenlicht der Sonne glänzt Raureif auf den Feldern, Vögel zwitschern, die funkelnde Wupper rauscht – und in einem feuchten, dunklen Raum bringt Herbert Loos (74) das Herz einer über 400 Jahre alten Schleiferwerkstatt zum Schlagen.
Denn hier, am Flussufer an der Stadtgrenze Solingen/Leichlingen, steht der „Wipperkotten“ – einer der letzten „Doppelkotten“ Deutschlands, die noch in Betrieb sind. Kotten, so werden die Schleiferwerkstätten im Bergischen Land genannt. Während das Fachwerkhaus am Flussufer, der „Innenkotten“, Wohnräumen, Atelier und Ausstellungen Platz bietet, arbeiten im Außenkotten nebenan die drei letzten traditionellen Schleifer Solingens: Herbert Loos ist einer von ihnen.
Im Erdgeschoss dreht der 74-jährige Scherenschleifer eine Kurbel aus Eisen. Vor dem Mauern öffnet sich ein Schieber. Das gestaute Flusswasser schießt in die Schaufeln des großen Wasserrads mit knapp vier Metern Durchmesser. Kraftvoll setzt es sich in Bewegung. In der Mitte des kalten, spärlich beleuchteten Raums beginnen sich die mächtigen Achsen und Transmissionsräder zu drehen, Metallverbindungen von Riemen klatschen, die Entstaubungsanlage heult, das Wasser rauscht unaufhörlich. Das Herz des Kottens schlägt im Takt, ein neuer Tag beginnt.
Dem Rhythmus des Wasserrades folgend
Herbert Loos folgt seit über 40 Jahren dem Rhythmus des Wasserrads, das Schleifscheiben im Ober- und Untergeschoss antreibt. Dabei sind die Zeiten, in denen der Solinger täglich von 7 Uhr morgens bis abends um 18 Uhr an der Schleifscheibe saß und bis zu 20.000 Scheren im Jahr bearbeitet hat, längst vorbei. Maschinen ersetzen die „Heimarbeiter“ von einst, Loos und seine Kollegen arbeiten nur noch stundenweise. „In Fabriken wird nix mehr geschmiedet, es wird nix mehr geschliffen – nur noch gestanzt“, bringt es der Kottenmeister auf den Punkt. „Da sitzen die Arbeiter wie die Hühner auf der Stange.“
Aber die Welt scheint noch nicht ohne den Spezialisten auszukommen. Zwar wurde Herbert Loos vor zehn Jahren gekündigt und er ging unfreiwillig in Rente. „Danach holten mich Scherenfirmen aber wieder, weil sie keine Fachleute mehr hatten.“ Das sagt er, als sei das nichts Besonderes. Trotzdem schimmert Stolz durch, den der Mann mit der kräftigen Statur und den lebendigen Augen dabei empfindet.
Foto: Muscutt
Ganz malerisch und natürlich nah am Wasser steht der Doppelkotten.
So schleift der Rentner hin und wieder Rohlinge meist für Hersteller hochwertiger Haarscheren. Die Bandbreite reicht von Friseur-Scheren, die hundert Euro das Stück kosten, bis hin zu Modellen mit speziellem Design, die an prominente „Star-Friseure“ verkauft werden. In dem Fall kann eine Schere 1.500 Euro kosten. Pro Schere verdient Herbert Loos 80 Cent, sagt er. Für alle Produkte gilt: Sie sind besonders scharf und schneiden akkurat, da die Scherenhälften „perfekt“ aufeinander liegen.
Bereits im Mittelalter galt Solingen als Zentrum der deutschen Schneidwarenindustrie. Ihren weltweiten Ruf für Qualitätsprodukte hat die Klingenstadt jenen Berufsgruppen zu verdanken, die sich über die Jahrhunderte über ein hohes Maß hinaus spezialisierten. Mindestens sieben Berufe sind nach altem Verfahren für eine Schere nötig: Schmied, Härter, „Augenpliester“ – der allein für das Schleifen der Scherenaugen zuständig ist –, Schleifer, Galvaniseur, Monteur und Kontrolleur. So kann bei der Herstellung einer hochwertigen Schere „ab dem ersten Hammerschlag ein Viertel Jahr vergehen“, erläutert Herbert Loos. „In der stecken an die 150 Arbeitsgänge. Ich mach’ davon 30 bis 35.“
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