Wie eine junge Solingerin nach Albanien abgeschoben wurde

Abgeschoben in die Fremde

Von Lilian Muscutt für R2-Horizont

Foto: Muscutt

Tirana: die neue, unbekannte "Heimat". Florida träumt beim Blick aus dem Fenster oft von Solingen, dem regnerischen Wetter und den Wäldern im fernen Bergischen.

Der Traum. In ihren schönen Träumen steigt Florida an einer Solinger Haltestelle in die O-Bus-Linie 682 und fährt zur Schule. In den schlimmen Träumen sitzt sie eingesperrt in einem  Gefangenentransporter mit verdunkelten Scheiben und Gittern an den Fenstern. In den schönen Träumen freut sich Florida auf den Unterricht und ihre beste Freundin Marie. In den schlimmen Träumen hat sie große Angst. In den schönen Träumen empfindet Florida Glück. In den schlimmen Träumen fühlt sich Florida wie gelähmt.

Florida (15) wohnt seit über zweieinhalb Jahren in einem Hochhaus in der albanischen Hauptstadt Tirana und träumt von ihren Erinnerungen an Deutschland, ihrem „Zuhause“, wie sie sagt. Dort hat sie acht Jahre lang gelebt. Bis zu jenem „schrecklichen Tag“, als in der Frühe die Türklingel erschallte und den Morgen zerriss. Damals war Florida zwölf Jahre alt und musste in ein fremdes Land.

Aber Floridas Geschichte fängt viel früher an. Sie beginnt am 13. Juni 1997 um 7.15 Uhr, als ihre Mutter auf dem Balkon steht. An diesem Tag ist es ein anderes Geräusch, das den Morgen in Stücke reißt.

Der Krieg. Am 13. Juni 1997, es ist 7.15 Uhr, steht  Nazmie G. (36) auf einem Balkon in Tropojë, Nord-Albanien, und winkt ihrem Mann (41) zum Abschied, der sich auf den Weg in seinen Laden macht. Nazmie G. dreht sich um. Sie geht ein paar Schritte in die Wohnung. Dann hört sie den Schuss. „In dem Moment“, wird sie später erzählen, „ist alles in mir – mein Kopf, mein Herz –, alles ist zusammengefallen.“ Nazmie G. läuft hinaus, stürzt sich auf ihren Mann, der in einer Blut-Lache auf der Straße liegt. Er atmet noch. Ins Krankenhaus. Auf den Straßen, in den Autos: Vermummte Gestalten mit Kalaschnikows. Im Krankenhaus. Auf der Station tauchen Männer auf. Nazmie G. hat sie noch nie zuvor gesehen. Sie telefonieren leise mit Handys. Nazmie G. versteht nicht, worüber sie sprechen. Es war kein Raubüberfall. Das Geld in der Hosentasche ihres  Mannes ist noch da. Neun Tage später ist er tot, einen Tag vor dem Geburtstag seiner jüngsten Tochter Florida. Die Männer verschwinden von der Station. Nazmie G. verliert ihren Mann, Florida (4), Agim (10, Name geändert) und Albana (13) haben keinen Vater mehr. Sie werden nicht erfahren, wer sein Mörder ist. Nazmie G. hat Angst. Wird jemand ihren Sohn töten – um zu verhindern, dass er eines Tages den Tod seines Vaters rächen könnte? Diese Stadt, dieses Land, alles macht Angst. „Immer Angst.“

Die Armbanduhr. Nazmie G. flieht mit ihren Kindern und Ersparnissen zu einem Verwandten in die albanische Hauptstadt Tirana. Zeitung lesen. Jeden Tag Tote. Nazmie G.  organisiert Visa. Am 26. April 1998 fliegt sie mit Florida und Agim nach Deutschland, beantragt Asyl. Am Frankfurter Flughafen sagt Nazmie G.: „Wir gehen nicht zurück.“ Tochter Albana kommt einige Monate später nach. In einer Plastiktüte trägt Nazmie G. den 13. Juni 1997: die Kleidung, die ihr Mann an jenem Tag trug, darunter das Unterhemd mit zwei Löchern hinten und vorne, zwei goldene Eheringe, die Armbanduhr ihres Mannes und ihre eigene: Sie zeigt 7.15 Uhr. Als der Schuss fiel, sagt sie, sei ihre Uhr stehen geblieben.

Die Kopfschmerzen. In einem Solinger Flüchtlingswohnheim. Die traumatisierte Frau lebt in einem Käfig der Angst, kommt nicht zur Ruhe. Immer wieder neue Stempel in der Ausländerbehörde. Vorübergehende Duldungen. Unsicherheit. Angst vor Abschiebung. Zurück nach Albanien? Niemals. Depressionen. Jeder Tag ist ein Kampf. Aufstehen. Hauptsache: funktionieren. Hauptsache: hier bleiben. Hauptsache: die Kinder. „Ich lebe nur für die Kinder.“ Seit Jahren leidet Nazmie G. unter Kopfschmerzen. Aber seit dem Tod des Mannes sind sie nicht zum Aushalten. Mindestens ein Mal im Monat hat sie einen Schub, dann liegt sie tagelang im Bett. Ein Arzt verschreibt Medikamente gegen Migräne. Sie helfen nicht. Nazmie G. geht putzen. „Putzen ist gut. Da habe ich keine Zeit zum Grübeln.“ Sie braucht Geld für den Anwalt. Sie haben  keine Chance, in Deutschland zu bleiben, sagt der erste Anwalt. Nazmie G. geht zu einem Düsseldorfer Anwalt, der sagt: Sie haben eine Chance. Nazmie G. putzt und zahlt. Quittungen zeigen: Im Jahr 2005 sind es rund 2000 Euro.

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